Die Demokratie wehrhaft verteidigen - Gedenken an die Pogrome gegen jüdische Bürger
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Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war vorläufiger Höhepunkt der Judenverfolgung nach Machtübernahme der Nationalsozialisten fünf Jahre zuvor.
Der Ahlener Bürger Siegmund Spiegel starb in jener Nacht durch die Hand eines rassistischen Mobs, der ihn durch die Stadt hetzte und totschlug: Auf offener Straße, ohne dass dafür jemals jemand zur Rechenschaft gezogen worden ist. Wohnungen jüdischer Familien wurden aufgebrochen, die Menschen auf die Straße getrieben, ihr Hab und Gut unter dem Gejohle und Feixen der Schergen zum Fenster hinausgeworfen. Die Ahlener Synagoge ging vor den Augen der Feuerwehr in Flammen auf.
Berger forderte vor rund einhundert Besuchern der Kundgebung am Jüdischen Mahnmal auf der Klosterstraße, dass die Waffen des Grundgesetzes gegen all diejenigen einzusetzen seien, „die sich schleichend anschicken, Antisemitismus als irgendeine Meinung abzuschwächen und salonfähig zu machen.“ Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten guten Grund gehabt, unser freiheitlich-demokratisches System als ein wehrhaftes auszugestalten. So habe der Parlamentarische Rat 1949 ausdrücklich Bezug auf die Erfahrungen der Weimarer Republik genommen. „Nicht noch einmal sollte es Verfassungsgegnern gelingen, das demokratische System derart zu demontieren“, erinnerte Berger.
Die Idee der „wehrhaften Demokratie" sei daher im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert und durch verschiedene Artikel festgeschrieben. Das Verbot von Parteien und sonstigen Vereinigungen wegen verfassungswidriger Aktivitäten sowie die Verwirkung von Grundrechten, wenn diese zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht werden, sollten „ernsthafter geprüft und konsequent angewandt werden, wenn unsere liberale Grundordnung angegriffen wird.“ Es sei eine Schande für die ganze Gesellschaft, wenn jüdische Bürger heute wieder Angst haben müssen, ihren Glauben öffentlich zu zeigen. Berger warnte vor der Vergiftung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die tröpfchenweise geschehe: „Erst schmeckt sie etwas bitter, dann aber gewöhnt man sich an sie.“
Dr Bürgermeister verwies auf die Erinnerungsarbeit in Ahlen, die einen erheblichen Beitrag zur Deutung geschehenen Unrechts leiste. So beleuchtet am 28. Januar eine Informationsveranstaltung in der Stadtbücherei die Aufarbeitung des NS-Unrechts in der Bundesrepublik. Die nächste Verlegerunde von sogenannten Stolpersteinen stellt am 8. Februar die Opfer der NS-Euthanasie in den Mittelpunkt des Gedenkens.
Ruth Frankenthal, Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Münster, warnte vor den Gefahren, denen Demokratien weltweit durch rechtspopulistische Strömungen, die sich als volksnah bezeichnen, ausgesetzt seien. Judenhass und Judenfeindlichkeit gingen einher mit Ansichten, „die „Globalisierung und supranationale Strukturen ablehnen, Minderheiten als nicht dazugehörig bezeichnen und Migrationsströme als Bedrohung unserer Kultur ansehen.“ Blicke man auf die derzeitige Migration nach Europa, so spüre die jüdische Bevölkerung laut Frankenthal „viele Parallelen zu ihrer Situation in den 30er-Jahren, als es kaum Fluchtmöglichkeiten vor der Nazi-Bedrohung gab, weil nahezu alle Länder die Aufnahme verweigerten.“
Ehrengast Lorenz Beckhardt berichtete von den Geschehnissen, die sein jüdischer Vater am Tag der Reichspogromnacht erleben musste. Noch heute seien 20 Prozent der Bevölkerung Antisemiten. Die Parolen rechter Parteien seien die alten, ihre Ideen seien die alten, die Methoden seien die alten. „Neu ist nur, dass sie sich heute nicht mehr öffentlich damit brüsten, überzeugte Nationalsozialisten zu sein. Dafür sind sie noch zu feige.“ Antisemiten wollten keine Antisemiten mehr sein, „lieber ist man heute Israelkritiker.“ Noch immer würden heute erfolgreiche Argumentationsmuster der Nationalsozialisten Verwendung finden, so Beckhard. „Wenn ich heute Führer der AfD reden höre, dann höre ich, dass sie sich diese Rhetorik abgeschaut haben.“ Ganze Textbausteine von Hitler seien in ihren Reden zu finden. „Aber Nazis wollen sie nicht genannt werden. Lieber Patrioten.“