„Herzkammer der Jugendhilfe“: Wie der Schutz von Kindern auf Dauer gesichert werden kann

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Der Kinderschutz gehört zu den Kernaufgaben eines Jugendamtes, und hinter jedem Sachverhalt steckt ein echtes Schicksal. In den letzten Jahren hat er an Bedeutung erheblich zugenommen. Fälle sexueller Gewalt an Kindern, wie sie in Münster oder Lügde geschehen sind, haben die Öffentlichkeit bewegt und Interesse an der Arbeit geweckt, die Jugendämter von Städten und Kreisen Tag für Tag leisten.

Auf Einladung von Bürgermeister Dr. Alexander Berger stellte jetzt einer der angesehensten Experten für Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen im Rathaus ein Gutachten vor. Der aus Ahlen stammende Wissenschaftler Prof. Dr. Dirk Nüsken verfasste es für die Kinderschutzkommission des Landtags. „Ich verspreche mir davon wertvolle Impulse für unsere Arbeit“, so Berger, der sich zusammen mit Gruppenleiterin Marina Bänke und ASD-Leiterin Olga Weckerle informieren ließ.

Die Stadt Ahlen ist im Kreis Warendorf eine von vier Kommunen mit eigenem Jugendamt. Im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) kümmern sich 14 Beschäftigte darum, dass das Aufwachsen von Kindern frei von Gewalt gelingt. Auch vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Kinderschutzfall in Lügde hat die Kinderschutzkommission des Landtages NRW Ende 2020 ein Gutachten zu Organisation, Struktur, Größe, Standards, Qualität, Fortbildung und Weiterbildung in nordrhein-westfälischen Jugendämtern in Auftrag gegeben. „Der ASD ist die Herzkammer der Jugendhilfe“, so der Professor für Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Bochum. Die Mitarbeitenden benötigten insbesondere Spezialkompetenzen, um das Know-how eines Jugendamtes auch bei Personalausfällen aufrechterhalten zu können. 

„Ein gesunder Mix aus älteren und jüngeren Beschäftigten, aus Personal mit Migrationshintergrund und ohne ist enorm wichtig“, spricht sich Nüsken für Diversität in der Behörde aus. Sie sei Voraussetzung dafür, die verschiedenen Communitys und Milieus einer Stadt zu erreichen und zu verstehen. Professionelle, institutionelle Strukturen und Netzwerke, die über persönliche Beziehungen hinausgehen, seien unerlässlich für jedes Jugendamt. „Wenn beispielsweise ein Vollstreckungsbeamter in eine vermüllte Wohnung kommt und Hinweise auf dort lebende Kinder erhält, muss nach einer festen Regel Meldung an das Jugendamt erfolgen“, nennt Nüsken ein scheinbar selbstverständliches praktisches Beispiel, das aber noch lange nicht überall die Norm zu sein scheint. Seine Untersuchung unterschiedlich großer Jugendämter in NRW habe teils überraschende Verhältnisse offengelegt. So wenden die für den Kinderschutz zuständigen Ämter im Schnitt ein Drittel des Budgets für Weiterbildung aus, das im Groß- und Einzelhandel üblich sei. „Das ist viel zu wenig angesichts der Bedeutung, die das Thema einnimmt. Dabei geht es um Leben und Tod.“

Eine weitere zentrale Herausforderung ergebe sich aus Personalfluktuation und Fachkräftemangel. „Freie Träger sind eher in der Lage, studentische Praktikanten zu bezahlen und damit junge Leute anzuwerben“, legt Nüsken den Finger in die finanzielle Wunde. Nicht ausreichend sei seiner Überzeugung nach eine bloße Soll-Besetzung im ASD. Nüsken spricht sich dafür aus, der Empfehlung der Landesjugendämter nach einer 115-prozentigen Besetzung zu folgen. „Nur dann ist gewährleistet, dass bei Ausfällen oder übermäßigen Belastungen das Team tatsächlich zu einhundert Prozent einsatzfähig ist.“ Weitsichtig müsse ständig präsente Expertise im Jugendamt sichergestellt werden. Hierzu schlägt Nüsken die Schaffung von Kinderschutzbedarfsplänen vor, ähnlich wie man sie für die Ausstattung von Kindertagesstätten und Feuerwehren kenne. „Sie würden helfen, rechtzeitig Notwendigkeiten im Kinder- und Jugendschutz zu erkennen, die Leistungsfähigkeit zu dokumentieren und transparent Bedarfe für den folgenden Berichtszeitraum abzuleiten.“

Aus dem Ahlener Rathaus kommt jede Unterstützung für diesen Vorschlag, der Gegenstand der Beratungen für ein Landeskinderschutzgesetz ist. „Die Fälle werden komplexer, die Anforderungen steigen“, bestätigt ASD-Chefin Weckerle ihre Erfahrungen aus der Praxis. Ein gesetzlicher Rahmen, der notwendige Standards absichert, sei sehr zu begrüßen. Für Marina Bänke wirft das Gutachten die richtigen Fragestellungen auf: „Von vielen der hierin gemachten Vorschläge sprechen wir schon lange.“ Die zurückliegenden Monate seien genutzt worden, den ASD in diesem Sinne grundlegend neu zu organisieren. Für eine weitere Kooperation mit dem Bochumer Wissenschaftler ist Ahlens Bürgermeister offen und will diese mit den politischen Gremien beraten. „Die äußerst praxisrelevanten Forschungen von Professor Nüsken würden uns ganz sicher darin unterstützen, noch bessere Strukturen im Kinderschutz und bei den frühen Hilfen aufzubauen und auf Dauer zu sichern.“ Am Ende müsse für jeden Fall gelten: Wir haben alles getan.

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